Wolfgang Kaufmann: Das Dritte Reich und Tibet.
Die Heimat des "östlichen Hakenkreuzes" im Blickfeld der Nationalsozialisten.
Lange Zeit nahm die Geschichtswissenschaft kaum einmal Notiz davon, daß Politiker, Ideologen, Militärs, Geheimdienstler und Wissenschaftler des Drittes Reiches ein reges Interesse an Tibet gehegt hatten. Stattdessen bemächtigten sich selbsternannte „Kryptohistoriker“ aus aller Welt des Themas und setzten zahlreiche substanzlose Gerüchte über eine okkulte „Nazi-Tibet-Connection“ in die Welt. Deshalb ist es sehr bedeutsam, daß Wolfgang Kaufmann nun erstmals eine umfassende wissenschaftliche Studie vorlegt, in welcher der Frage nachgegangen wird, was die Nationalsozialisten eigentlich so an dem weit entfernten Himalayareich faszinierte. Dabei wird dann auch gleich zu Beginn mit all den pseudowissenschaftlichen Spekulationen diverser Phantasten und Verschwörungstheoretiker bzw. bekennender Paläo- und Neo-Faschisten aufgeräumt. Es folgen Ausführungen über die Quellenlage sowie den – bisher allerdings weitgehend rudimentären – Stand der seriösen Forschung bis einschließlich Ende 2009.
Kaufmanns Werk, welches in ganz überwiegendem Maße auf umfangreichen Archivrecherchen und der Auswertung zeitgenössischer Veröffentlichungen beruht, beleuchtet dabei ausnahmslos alle Aspekte, unter denen der Dalai-Lama-Staat für die Nationalsozialisten Relevanz besaß. So sahen einflußreiche Ideologen des Dritten Reiches in Tibet ein einzigartiges Refugium, in dem wichtige Bestandteile der „arisch-nordisch-atlantischen Urkultur“ überdauert hätten – eine Auffassung, der sich auch der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, anschloß, was für den weiteren Verlauf der Ereignisse von entscheidender Bedeutung sein sollte. Es war nämlich kein Geringerer als eben der Chef der Schutzstaffel, der immer wieder (und durchaus nicht zur Freude Hitlers) propagierte, man müsse bestimmte Elemente der buddhistisch-lamaeistischen Religion Tibets, wie die Reinkarnations- und Karmalehre, in die noch zu schaffende NS-gemäße, also nichtchristliche, Ersatzreligion integrieren. Doch nicht nur deshalb förderte Himmler die Erforschung des „Daches der Welt“ von seiten der SS-Wissenschaftsorganisation „Das Ahnenerbe“: Ebenso sah er in dem von ihm sehr intensiv protegierten Tibetforscher Ernst Schäfer, dessen Expeditionstätigkeit in dem vorliegenden Werk genauso detailliert zur Sprache kommt wie die des zweiten damaligen deutschen Tibetforschers Wilhelm Filchner, eine wesentliche Schachfigur im polykratischen Duell mit anderen Instanzen des NS-Staates. Und so geschah es dann auch tatsächlich, daß die SS infolge des ungeheuren Taten- bzw. Geltungsdranges von Schäfer und mit Hilfe des von ihm mitgebrachten Tibetmaterials in die Kulturpflanzenforschung und andere als kriegswichtig – ja manchmal sogar als kriegsentscheidend – deklarierte naturwissenschaftliche Projekte einsteigen konnte. Desgleichen gedieh die Tibetologie, d. h., die geisteswissenschaftlich orientierte Beschäftigung mit Sprache, Geschichte und Kultur Tibets, unter Himmlers Ägide ungeachtet aller kriegbedingten Einschränkungen.
Im Zusammenhang mit dem Auftreten von SS-Forschern in der für Ausländer eigentlich gesperrten tibetischen Hauptstadt kam es Anfang 1939 zu ersten zaghaften Annäherungsversuchen zwischen Lhasa und Berlin, die jedoch bald darauf durch den Kriegsausbruch ein abruptes Ende fanden. Nichtsdestotrotz sahen einige verhinderte Strategen im Auswärtigen Amt und der SS-Führung in der Theokratie auf dem „Dach der Welt“ einen potentiellen Verbündeten im Kampf gegen die Briten. Hieraus resultierten dann diverse aberwitzige Pläne für bilaterale Militäreinsätze im südlichen Himalaya, die freilich nie zur Realisierung kamen, aber von Kaufmann wegen ihrer symptomatischen Bedeutsamkeit ebenso detailliert beschrieben werden wie die reale geostrategische Situation in und um das offiziell neutrale Tibet. Diese war nicht zuletzt dadurch geprägt, daß Japan, ein wichtiger Verbündeter Hitlers, scheinbar unaufhaltsam auf die Grenzen des Dalai-Lama-Staates zurückte und in diesem Zusammenhang auch eine regelrechte „Operation Tibet“ startete. Wie Kaufmann unter Zugrundlegung zahlreicher publizierter und unpublizierter Quellen, aber auch von der Forschung bislang überhaupt nicht rezipierter zeitgenössischer Pressestimmen nachweist, stellte dies für die NS-Führung ein erhebliches Problem dar, denn letztlich sah sich das Dritte Reich ja nicht nur im Kampf gegen die „jüdisch-bolschewistisch-innerasiatische Gefahr“, sondern auch im Ringen gegen „Asien“ insgesamt. Hieraus resultierte ab 1942 ein neues Interesse am zentralasiatischen Raum bzw. Tibet, wobei es diesmal darum ging, die Regionen im Auge zu behalten, in denen sich die expandierenden Machtsphären Deutschlands und Japans wahrscheinlich einmal berühren würden. Doch damit nicht genug: Das vorliegende Werk bietet gleichermaßen Belege dafür, daß man in Berlin und Tokyo glaubte, dem Sieg über die Alliierten und China werde eine finale Auseinandersetzung (also quasi der Dritte Weltkrieg) zwischen den beiden dann einzig noch verbleibenden Führungsmächten der gelben und der weißen Rasse folgen – eine selbstredend utopische Annahme, welche aber seinerzeit implizierte, die erwähnte Nahtstelle der Machtbereiche zugleich auch als potentiellen Schauplatz des Endkampfes um die alleinige Weltherrschaft anzusehen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum der Reichsführer SS, inzwischen einer der dezidiertesten Befürworter von vorbeugenden Maßnahmen zur Abwehr von Bedrohungen aufgrund der Expansion der Japaner sowie der vermeintlichen Vorstöße „Innerasiens“, Anfang 1942 anordnete, sowohl die Asienforschung im allgemeinen als auch die Zentralasien- bzw. Tibetforschung im besonderen „stärkstens“ auszubauen, woraufhin dann tatsächlich die Gründung mehrerer entsprechender Einrichtungen erfolgte. Hierbei handelte es sich u. a. um das Schäfersche Reichsinstitut Sven Hedin für Innerasienforschung in München (hervorgegangen aus der „Ahnenerbe“-Lehr- und Forschungsstätte für Innerasien und Expeditionen), das Ostasien-Institut in Berlin sowie die Arbeitsgemeinschaft Turkestan in Dresden – alles Einrichtungen, welche entweder dem SS-Auslandsnachrichtendienst Schellenbergs zuarbeiten sollten oder gleich der RSHA-Gruppe VI G zugeordnet wurden. Kaufmann bietet eine detaillierte Schilderung der Tätigkeit dieser Institutionen, soweit sie sich auf Zentralasien bzw. Tibet bezog. Dabei weist er unter anderem nach, daß aufgrund der enormen strategischen Wichtigkeit für den NS-Staat praktisch bis „Fünf nach Zwölf“ Tibetforschung betrieben wurde.
Ebenso geht das Werk abschließend noch auf die Nachkriegskarrieren der wichtigsten Protagonisten der NS-Tibetforschung ein. Dabei kommt zutage, daß sich die Entnazifizierung selbst unverkennbar belasteter Personen ausnehmend harmlos gestaltete. Andererseits erhielt aber trotzdem keiner der „Mitläufer“ die Möglichkeit zu einer bruchlosen Fortsetzung seiner Wissenschaftlerlaufbahn – ausgenommen die Tibetologen Helmut Hoffmann (München) und Johannes Schubert (Leipzig), die damit zu Neubegründern ihres Faches im nunmehr geteilten Deutschland wurden.
Der Verfasser des Werkes „Das Dritte Reich und Tibet“, Wolfgang Kaufmann (Jahrgang 1957), verzichtete in der DDR trotz Abiturs auf einen Hochschulbesuch und betätigte sich statt dessen als Mechaniker, Maschinist usw. Nach der „Wende“ studierte er dann Geschichte und Soziale Verhaltenswissenschaften an der FernUniversität Hagen. Dort erwarb er zunächst zwei Bachelor-Abschlüsse und schließlich im Jahre 2000 auch einen Magister-Abschluß. Ende 2008 wurde er dann wiederum in Hagen mit einer Dissertation über das Tibetinteresse der Nationalsozialisten zum Dr. phil. promoviert. Diese Arbeit, welche mit „summa cum laude“ bewertet wurde, bildete die Basis für das vorliegende Buch. Kaufmann ist seit 2000 als Lehrbeauftragter für Geschichte an einer sächsischen Universität tätig und unterrichtet an einer privaten Dresdner Bildungseinrichtung als Honorardozent für Psychologie.
Schon in 3. Auflage!
966 Seiten, 3. Auflage 2012.
ISBN 978-3-933022-58-5
30,-- €